Freiheit und freier Wille

 

„Freiheit ist das höchste Gut“ lautet ein Sprichwort. Aber was meinen wir denn, wenn wir von Freiheit sprechen?

Für Manche bedeutet Freiheit, die eigene Ideologie gegen andere Ideologien durchzusetzen, für Manche, tun und lassen zu können, was ihnen gerade in den Sinn kommt, und für Manche bedeutet Freiheit auch, nicht im Gefängnis sitzen zu müssen, usw. Aber alle Freiheiten dieser Art sind sekundäre oder relative Freiheiten, weil sie auf einer primären Unfreiheit beruhen, die von den meisten Menschen gar nicht als solche bemerkt oder erkannt wird. Zu diesen primären Unfreiheiten gehören beispielsweise das Gebundensein an den physischen Organismus mit seinen Trieben und Instinkten, sowie die Besessenheit von psychischen Inhalten, Konditionierungen, Verhaltensmustern, Ideologien, Meinungen und Ideen usw., die der Mensch für seine eigenen hält. Weil er all diese Dinge für seine eigenen hält, glaubt er sie zu besitzen und bemerkt nicht, dass er von ihnen besessen ist, dass er ihnen unterjocht ist. Deshalb strebt er lediglich nach sekundären Freiheiten, die ihn, wenn er sie erlangt, meist nur kurzfristig zufriedenstellen. Denn aufgrund seiner primären Unfreiheiten wird er immer wieder bestrebt sein, eine andere und neue s "Freiheit" zu erlangen. Auf diese Weise kann ein Mensch sein gesamtes Leben damit verbringen, einer "Freiheit" nach der anderen nachzujagen, ohne wirklich frei zu sein.

Wirklich frei sein kann der Mensch nur, wenn er seine primären Unfreiheiten ablegt und so seine primäre Freiheit erlangt. Dies kann entweder durch seinen psychophysischen Tod geschehen, oder aber während seines Lebens durch einen inneren Transformationsprozess, der sein Bewusstsein aus seinen psychophysischen Gegebenheiten, das heißt, aus seinem physischen Organismus, seinem Handeln, seinem Fühlen, seinem Denken und seinen Vorstellungen herauslöst. Oder anders ausgedrückt: durch einen Transformationsprozess, der sein Bewusstsein von diesen Dingen erlöst, was in gewisser Weise auch bedeutet, als das zu sterben was er ist, bevor er stirbt.

Im Wesentlichen bedeutet primäre Freiheit, nicht besessen oder nicht besetzt zu sein. Wie etwa ein Stuhl, der nicht besetzt ist, der frei und nicht besessen ist. Wenn wir dieses Beispiel auf unser Bewusstsein, welches das wahre Wesen des Menschen ausmacht, anwenden, dann bedeutet wahre oder primäre Freiheit, im unbesetzten, leeren und formlosen Bewusstsein weilen zu können, während der psychophysische Organismus und die Dinge in seiner Umgebung ihren Gang gehen, ohne dass das Bewusstsein damit identifiziert ist. Solange der Mensch mit seinem Organismus, psychischen Inhalten und Ideologien identifiziert ist, wir seine Freiheit immer nur imaginär und illusionär bleiben.

Was den sogenannten „freien Willen“ des Menschen angeht, so müssen wir uns bei näherer Betrachtung auch hier eingestehen, dass er mehr aus Einbildungen als aus realer Wirklichkeit besteht. Denn mit dem Willen verhält es sich nicht anders als mit der Freiheit. Sobald der Wille einem Instinkt, einem Trieb, einem Wunsch, einer Begierde, einer Furcht, einer Idee oder Ideologie folgt, ist er gebunden und somit unfrei. Weil der Mensch aber meistens mit diesen Gegebenheiten identifiziert ist, hält er die Eigendynamik dieser Dinge für seinen eigenen Willen und wähnt ihn deshalb als „frei“. Das ist Eigenwille und Eigenwille kann niemals frei sein, weil er immer einer Sache eigen ist, die ihr Eigeninteresse verwirklichen will. Diesem Eigeninteresse stehen aber immer die Eigeninteressen anderer Gegebenheiten gegenüber. Eigenwille ist daher immer bedingt und begrenzt – also unfrei. Der Eigenwille eines Menschen wird also immer fremdbestimmt. Sei es durch Instinkte, Triebe, Wünsche, Gier, Geiz, Hass, Liebe, Furcht, Sympathie, Antipathie, Eitelkeit, Neid, Stolz, Machthunger, anerzogene Einstellungen, Haltungen oder Ideologien, usw., usw. Sein Wille ist all diesen Dingen unterjocht und versklavt. Er glaubt, die Entscheidung für oder gegen eine Sache liege in seinem Ermessen. Doch diese Entscheidung wird gemäß seinen anerzogenen Haltungen, Einstellungen, Konditionierungen, Assoziationsmustern, Vorlieben, Neigungen und Abneigungen schon gefällt, bevor ihm die vermeintlich eigene Entscheidung überhaupt zu Bewusstsein kommt. Das ist keine bloße Vermutung, sondern eine Tatsache, die auch von der modernen Hirnforschung bestätigt wird.

Aber diese Tatsache wird, aufgrund von jahrtausendealten eingeprägten und eingefahrenen Vorstellungen vom Menschen, von der Allgemeinheit weder anerkannt, noch angenommen. Denn die Anerkennung dieser Tatsache würde konsequenterweise eine weitreichende Revolution des alt eingefahrenen Menschenbildes bedeuten. Eine solche Revolution wäre für den Menschen noch weitreichender als die von Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei initiierte Revolution des geozentrischen Weltbildes in ein heliozentrisches. Der Mensch wäre dann nicht mehr die „Krone der Schöpfung“, sondern in erster Linie ein Bioautomat und Bediensteter der Natur. Die Würde des Menschen wäre dann nicht mehr von vorneherein „unantastbar“, sondern eine solche Würde müsste erst erworben werden. Denn besäße der Mensch wirklich unantastbare Würde, könnte er dann von Vorstellungen und Ideologien besessen solche grausamen und schrecklichen Taten verüben, wie er sie tagtäglich verübt?

Das neue Menschenbild würde für den Menschen sowohl Konsequenzen für seine Rechtsprechung als auch für sein Handeln und seinem Streben nach Freiheit nach sich ziehen. Im Falle der Rechtsprechung müsste die Frage der Schuldfähigkeit vollkommen neu gestellt werden, weil Schuldfähigkeit einen freien Willen voraussetzt. Der Mensch würde seine Hybris verlieren. Er würde bescheidener werden. Seine Freiheit würde er nicht mehr in der Vernichtung seinesgleichen, sondern eher in der Selbstüberwindung suchen. Denn er wüsste, dass er selbst Sklave seiner Natur, seiner Neigungen, seiner Konditionierungen und seiner Ideologien ist.

G. I. Gurdjieff sagt: „Der Mensch hat nicht genug Willen, zu tun, aber er hat genug Willen um einen anderen zu folgen!“ (Aus Ouspensky, Peter D.: Auf der Suche nach dem Wunderbaren) Dieser Umstand macht es einerseits möglich, dass der Mensch beeinflussbar und konditionierbar ist, wodurch er dienstbar gemacht werden kann, und andererseits auch, dass er auf einen Weg geführt werden kann, der ihn aus seiner Versklavung befreit und freien Willen verspricht, vorausgesetzt natürlich, dass der, der ihn führt, auch selbst schon befreit ist. Sonst „läuft die Katze auf den alten Füßen“.

Wir haben oben die mögliche primäre Freiheit des Menschen als ein Verweilenkönnen im leeren, formlosen Bewusstsein definiert. Und wenn wir hier den möglichen freien Willen des Menschen definieren wollen, dann können wir sagen, dass Wille, der was oder wem auch immer gehorcht, unfreier Wille ist, und dass freier Wille absoluter Ungehorsam ist. Mit absolutem Ungehorsam ist hier aber nicht gemeint, dass man lediglich einer Sache nicht gehorcht, während man auf der anderen Seite einer Sache gehorcht, sondern, dass man überhaupt keiner Sache, keinem Gedanken, keinem Gefühl oder sonst wem oder was gehorcht. In dieser Hinsicht bedeutet freier Wille, Willen, der auf nichts gerichtet ist, oder Willen ohne Bestreben. Und damit landen wir wieder beim leeren, formlosen Bewusstsein. Denn ein Verweilen im leeren, formlosen Bewusstsein ist ohne freien Willen nicht möglich und umgekehrt ist freier Wille nicht ohne Verweilen im leeren, formlosen Bewusstsein möglich. Freier Wille und primäre Freiheit bilden also eine Einheit. Leeres, formloses Bewusstsein wäre ohne Willen wirklich leer, tot oder nicht vorhanden, und freier Wille wäre ohne Bewusstsein ebenso nicht vorhanden.

Der Mensch ist unzähligen Einflüssen unterworfen, seien diese kosmologischer, physiologischer, psychologischer, ethnologischer, politischer oder sozialer Natur. Will er die für ihn größtmögliche Freiheit von diesen Einflüssen erlangen, kann er dies nicht ohne fremde Hilfe und eigene Anstrengungen erreichen. Hilfe kann er von denen bekommen, die ihre primäre Freiheit bereits erlangt und einen Weg in mündlicher oder schriftlicher Form aufzeigen oder hinterlassen haben. Manche finden einen persönlichen Lehrer, der sie auf dem Weg des Gehorsams lehrt und führt, bis sie den Zustand des absoluten Ungehorsams erreichen. Andere tun sich mit Gleichgesinnten zusammen, um sich auf ihren eingeschlagenen Weg gegenseitig zu unterstützen. Und wieder andere gehen, nachdem sie durch zufällige, glückliche äußere Umstände auf den Weg der Betrachtung und Meditation aufmerksam wurden, den Weg alleine.  Letztendlich laufen aber alle Wege auf Betrachtung und Meditation hinaus. Denn durch die Betrachtung der Abspulung psychophysischer Vorgänge oder assoziativer Denk-, Fühl-, und Handlungsmuster gewinnt das Bewusstsein einen gewissen Abstand zu diesen Dingen, wodurch Meditation im Sinne von Verweilen im leeren, formlosen Bewusstsein überhaupt erst möglich wird. Während dieses Verweilens stehen sowohl das Bewusstsein als auch der Wille still und sind frei.

Siehe auch Bücher zum Thema