Von der wahren Würde des Menschen

 

„Würde“: ... ein gewichtiges Wort, schwer zu verstehen, gewichtig in seiner Bedeutung!

Dennoch ist es eines der Worte, die oft achtlos gebraucht werden, ohne jemals über deren wirkliche Bedeutung nachzudenken.

Wir sagen zum Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Was meinen wir denn damit? Meinen wir damit, dass seine Würde von allem, was immer er auch tun mag, unberührt bleibt, auch wenn er Menschenunwürdiges tut oder er seine Menschlichkeit verloren hat? Halten wir mit solchen Aussagen den selbstberuhigenden Glauben aufrecht, dass wir unser Menschsein und unsere Menschlichkeit niemals verlieren können? Ist es eine Floskel, die von Persönlichkeitskultfiguren in das Grundgesetz eingefügt wurde, um uns und sich selbst Glauben zu machen, wir würden von vornherein, ohne unser Zutun, von der Geburt bis zum Tod Menschenwürde besitzen? Oder ist es eine Aufforderung, anderen Menschen gegenüber respektvoll zu sein? Bräuchten wir eine solche Aufforderung überhaupt, wenn wir wahre Menschenwürde besäßen?

Oder müssten wir vielmehr sagen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sofern er überhaupt wahre Menschenwürde besitzt“?

Denn solange er keine wahre Menschenwürde besitzt, bleibt seine „unantastbare Würde“ etwas rein Imaginäres, das, um es sarkastisch auszudrücken, als solches natürlich ebenfalls „unantastbar“ ist, weil es nämlich gar nicht existiert. Solange der Mensch kein wahrer Mensch geworden ist, bleibt auch seine sogenannte „Würde“  etwas Unwahres.

Wir müssen uns also fragen: Was ist wahre Würde? Und insbesondere, was ist wahre Menschenwürde? Wenn wir das beantwortet haben, müssen wir uns auch noch fragen, ob wir wahre Menschenwürde bereits von vorneherein besitzen, oder ob wir sie erst erlangen müssen; ob wir erst wirklich Mensch werden müssen, bevor wir sie erlangen können?

Im Rahmen seiner eigenen Natur besitzt jedes Lebewesen eine natürliche Würde, im Sinne von Daseinswert und dem Recht auf Unversehrtheit seiner eigenen Natur.

So besitzt nicht nur der Mensch, sondern auch jede Pflanze und jedes Tier, gemäß seiner eigenen Natur, seine natürliche Würde. Verliert ein Wesen den Kontakt zu seiner eigenen Natur oder wird es aus seiner natürlichen Umgebung herausgerissen, wird ihm damit auch seine naturgegebene Würde genommen.

Die Wesensnatur eines Tieres ist gegenüber der des Menschen relativ unkompliziert. Deshalb kann ein Tier nicht anders als immer nur authentisch zu sein, und deshalb kann es auch den Kontakt zu seiner Wesensnatur nicht so leicht verlieren. Es sei denn, wir berauben ihm seiner natürlichen Umgebung.

Ein Tier ist seine Wesensnatur: Eine Katze bleibt immer eine Katze, ein Pferd bleibt immer ein Pferd usw. Trotzdem können wir dem Tier seiner Würde berauben, wenn wir es zum Beispiel in einem Zoo oder in eine Einrichtung für Massentierhaltung einsperren oder es quälen, usw.

Beim Menschen hingegen stellt sich die Sache etwas komplexer dar:

„… Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Matthäus 8, 20)

Friedrich Nietzsches Zarathustra sagt: „Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.“

Weil nämlich die wirkliche Wesensnatur des Menschen im leeren, formlosen Bewusstsein liegt, kann er im Grunde jedwede Form annehmen, sich damit identifizieren und die entsprechende Form als seine „Identität“ annehmen.

Die Rangweite solcher „Identitäten“ reicht von Identifikationen mit dem vegetativen Organismus, mit tierischen Instinkten, Trieben, allen möglichen Rollen des Soziallebens und der Persönlichkeit bis hin zu einem geeinten, allumfassenden, göttlichen Bewusstsein.

Aus dieser Tatsache erklärt sich auch, dass wir in der Psyche des Menschen Verhaltensweisen verschiedenster Tierarten finden können, und dass sich der Mensch im Unterschied zum Tier sehr leicht von seiner wahren Wesensnatur und damit auch von seiner Menschenwürde entfernen kann.

Der Mensch kann seine wahre Wesensnatur, seine Authentizität durch die Identifikation mit psychischen Inhalten sehr leicht verlieren und zu einer „Identität“ werden, die mit seiner wahren Wesensnatur nicht mehr viel zu tun hat. Er fällt dann von seiner wahren Natur und seiner natürlichen Würde ab und erlangt innerhalb seiner Persönlichkeitskultur und seines Sozialgefüges eine imaginäre Scheinwürde. Das Wesen Mensch selbst und seine wahre Würde pervertieren so zu einer künstlichen und unechten Erscheinung.

Ein Tummelplatz solcher unechten und künstlichen „würdevollen“ Erscheinungen ist der Persönlichkeitskult, in welchem jede Persönlichkeit zwar ihre imaginäre „Identität“ und „Würde“ besitzt, aber die Authentizität des Menschen und seine echte Menschenwürde sind verloren gegangen.

Da der Mensch in eine Persönlichkeitskultur hineingeboren wird und daher nichts anderes als diese kennt, beginnt er seine Persönlichkeit für sein „wahres Wesen“ zu halten. Er erwirbt so, neben seiner tierischen Natur auf der einen und seiner wahren Menschennatur auf der anderen Seite, eine dritte Natur – oder Zwischennatur – mit einer falschen „Authentizität“ und einer künstlichen „Menschenwürde“.

Seine „Würde“ entspricht dann, wenn überhaupt, eher der Würde eines Tieres. Und weil seine „Authentizität“ falsch ist, kann er in Wahrheit sogar weniger Würde als ein Tier besitzen.

Ein Mensch kann also drei Arten  von Würde besitzen: Die Würde eines Tieres. Eine künstliche, nur in seiner Einbildung existierende Würde seiner Persönlichkeit oder Scheinidentität. Und die Würde eines wahren Menschen. Die „Unantastbarkeit“ trifft aber nur auf Letzteres zu.

Im Folgenden werden wir sehen, dass echte Menschenwürde weit über die Würde eines Tieres oder die Würde der Persönlichkeit hinausreicht und nur dem wirklichen, ganz gewordenen Menschen, wahren Menschen eigen sein kann.

Echte Menschenwürde beinhaltet nämlich:

Aufrichtigkeit.

Wertschätzung.

Gewissen und Mitgefühl.

Selbstbestimmung.

Integrität.

Und letztendlich: ERHABENHEIT.

Wirkliche, wahre Menschenwürde kann daher nicht in der Persönlichkeit liegen, weil die Persönlichkeit lediglich ein mechanisierter Anpassungsapparat an unsere Umgebung ist.

Echte Menschenwürde kann nur im ungeformten Bewusstsein, in der wahren Wesensnatur des Menschen liegen!

Denn:

Aufrichtigkeit, Wertschätzung, Gewissen, Mitgefühl, Selbstbestimmung, Integrität und Erhabenheit sind nur in einem ungebundenen Bewusstsein möglich.

Dabei dürfen wir Aufrichtigkeit nicht mit einer auf Halbwahrheiten beruhenden „Ehrlichkeit“ der Persönlichkeit verwechseln, die vorwiegend dazu dient, unser idealisiertes Selbstbild aufrechtzuerhalten und lediglich eine subjektive, verzerrte „Wahrheit“ zum Ausdruck bringt. Denn wirkliche Aufrichtigkeit findet außerhalb der Persönlichkeit, im Bewusstsein statt und steht immer in Beziehung zu unsrer wahren Wesensnatur, dem ungeformten Bewusstsein.

Aufrichtigkeit bedeutet dann in erster Linie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber. Es bedeutet zu erkennen, wenn wir uns Selbst und Andere belügen, wenn wir zu sein glauben, was wir nicht sind, wenn wir uns selbst Dinge wie „freien Willen“, „Selbstbewusstsein“, „Selbstbestimmung“ und „Freiheit“ zuschreiben, obwohl wir sie nicht besitzen. Es bedeutet unsere Schwächen und unsere Identifikationen zu sehen, sie zu erleiden, zu ertra-gen und ihnen standzuhalten, ohne sie zu rechtfertigen. Es bedeutet in unserer Wesensnatur, im Leeren Bewusstsein den Freuden, Leiden und Widrigkeiten des Lebens und unserer Persönlichkeit gegenüber Aufrecht zu stehen und, wenn diese uns beugen, uns in unserer Wesensnatur auch immer wieder aufzurichten. Kurz: Es bedeutet, uns Selbst, dem Leben und auch dem Tod aufrecht gegenüberzustehen!

Wertschätzung dürfen wir nicht mit persönlichen oder kulturellen Werten verwechseln. Solche Werte können nämlich so unterschiedlich sein, dass ihre Bandbreiten von Perversionen bis hin zu Heldentaten reichen.

Wertschätzung bedeutet hier, die Respektierung und Achtung des Daseins, einschließlich des Daseins anderer Wesen. Und weil das Dasein auch den Tod beinhaltet, bedeutet es auch die Wertschätzung, Respektierung und Achtung des Todes!

Gewissen meint hier nicht den Moralkodex der Persönlichkeit, der ihr innerhalb eines Sozialgefüges durch Erziehung oder Konditionierung eingeprägt wurde und nicht mehr als einen anerzogenen, mechanisch-moralischen Reflex darstellt. Dieser konditionierte, mechanisch-moralische Reflex, der auf einer gewissen Furcht vor Strafe, auf Schuldgefühlen sowie dem Wunsch nach Lob und Anerkennung beruht, mag zwar als eine Art Ersatzgewissen dienen, um ein möglichst reibungsloses Zusammenleben innerhalb eines Sozialgefüges zu ermöglichen, hat aber mit echtem Gewissen, von dem wir hier sprechen, nichts zu tun. Zumal es innerhalb unterschiedlicher Sozialgefüge auch unterschiedliche, oft unvereinbare Moralkodexe gibt. So kann das Edelste und Wünschenswerteste des einen Sozialgefüges das Unedelste und Verabscheuungswürdigste eines anderen Sozialgefüges sein.

Echtes Gewissen hingegen beruht auf der tiefen Erkenntnis, dass alle Wesen gleichen Ursprungs und aus einem einzigen Urgrund hervorgegangen sind. Echtes Gewissen ist die Gewissheit der Einheit alles Seienden – gleich-gültig wie gegensätzlich, unterschiedlich und unvereinbar uns manche Dinge an der Oberfläche des Seins auch erscheinen mögen. In der Tiefe des Seins sind nämlich alle an der Oberfläche als getrennt erscheinende Gegensätzlichkeiten miteinander verbunden, wie etwa die Ufer eines Flusses im Grund des Flusses miteinander verbunden sind.

Echtes Mitgefühl geht aus echtem Gewissen hervor und entspricht der Fähigkeit, sich in die Lage anderer Wesen versetzen zu können. Geht unser „Mitgefühl“ nicht aus echtem Gewissen, sondern aus der Persönlichkeit hervor, dann ist es eher eine Art des nach außen projizierten Selbstmitleids, das wir als „Mitleid“ oder „Mitgefühl“ empfinden und das von unserer persönlichen Sympathie oder Antipathie abhängig ist. Letztendlich geht echtes Mitgefühl aus der Tatsache hervor, dass das eine ursprüngliche Bewusstsein durch die Entstehung der Existenz in Gegensätze aufgespalten wurde und jetzt in sich widerstreitenden und begrenzten Formen das Getrenntsein von seinem Einen Urgrund erleiden muss.

Selbstbestimmung dürfen wir, in diesem Zusammenhang, nicht mit persönlichem Eigenwillen verwechseln. Eigenwille gehört zur Persönlichkeit. Er entsteht durch die Vorherrschaft einzelner Persönlichkeitsteile. Er entsteht aus Wünschen, Vorlieben und Abneigungen der Persönlichkeit und wird von den Umgebungseinflüssen sowie den Prägungen der Persönlichkeit geregelt.

Wirkliche Selbstbestimmung hingegen ist bedingungslos! Denn jede an eine Bedingung geknüpfte „Selbstbestimmung“ wäre durch eben diese Bedingung fremdbestimmt – also unfreiwillig.

Selbstbestimmung heißt: freiwillig seiner Bestimmung zu folgen, sich auf die natürlichen, unumstößlichen Gegebenheiten des Daseins einzustimmen und sie zu wollen! Und das bedeutet letztendlich auch: Den Tod zu wollen, wenn die Zeit dafür gekommen ist!

Ein würdevolles Sterben ist in dieser Hinsicht also nur möglich, wenn ein Mensch seinen Tod auch will, sobald seine Zeit gekommen ist! Selbstbestimmung ist freier, unbedingter Wille!

Integrität bedeutet hier nicht ein Eingebundensein in soziale Strukturen beruflicher, kultureller oder familiärer Art. Dies gehört zur Persönlichkeit.

Integrität in Zusammenhang mit Würde bedeutet vielmehr, ein inneres, alle Gegensätze umfassendes Ganzsein, eine innere Individualität im Sinne von Unteilbarkeit zu besitzen.

Erhabenheit dürfen wir nicht mit Anmaßung oder Überheblichkeit verwechseln. Denn Anmaßung und Überheblichkeit entstehen, wenn sich einzelne Persönlichkeitsteile verselbstständigen und sich anmaßen, über andere zu stehen oder besser zu sein als andere.

Erhabenheit bedeutet vielmehr, ein über dem Körper und über der Persönlichkeit stehen, ein inneres Losgelöstsein des Bewusstseins von Körper und Persönlichkeit!

Alle diese Tugenden sind Bestandteil echter Menschenwürde. Solange wir diese Tugenden nicht besitzen, besitzen wir auch keine wahre Menschenwürde.

Wir können hier auch sehen, wie diese dem wahren Menschen zugehörenden Tugenden innerhalb der „Ich“-bewussten Persönlichkeit degradiert werden und sich in ihr Gegenteil wandeln:

Aufrichtigkeit wird zu einer falschen „Ehrlichkeit“, weil die Persönlichkeit nur Teilaspekte der Wirklichkeit erkennen kann.

Wertschätzung wird zur Wertung, zur Bewertung, zur Beurteilung und schließlich zur Verurteilung.

Gewissen wird zu einer anerzogenen, mechanisch-moralischen Instanz.

Mitgefühl wird zu Selbstmitleid, das zwar zu einer Art sentimentaler Fürsorglichkeit werden kann, aber mit wirklichem Mitgefühl nichts mehr zu tun hat.

Selbstbestimmung wird zum Eigensinn einzelner Vorlieben und Abneigungen der Persönlichkeit.

Integrität wird zum Eingebundensein in soziale Strukturen, in denen sich unser inneres Ganzsein in persönlichen Äußerlichkeiten verliert.

Erhabenheit wird innerhalb der Persönlichkeit zur Anmaßung, Arroganz und Überheblichkeit.

Aus dem bisher gesagten können wir nun gewisse Schlussfolgerungen ziehen:

Die wahre Würde des Menschen ist keine soziale Angelegenheit, sondern sie ist individual, im Sinne von unteilbar und nicht übertragbar, sie ist eine Eigenschaft des tiefsten, innersten Wesens des Menschen, und als solche ist sie wirklich unantastbar!

Echte Menschenwürde ist ein erstrebenswertes, hohes Gut, das nur wenige besitzen! Sie ist, wenn man so will, ein göttliches Attribut.

Nur wenn ein Mensch bewusst und willentlich stirbt, kann er menschenwürdig sterben!

Wenn wir den Menschen als einen Übergang zwischen Tierwelt und höherem Bewusstsein begreifen, dann kann er auch verschiedene Arten der Würde besitzen:

Liegt sein Hauptschwerpunkt im ungeformten Bewusstsein, besitzt er echte Menschenwürde oder überpersönliche Würde.

Liegt sein Hauptschwerpunkt in der Persönlichkeit, besitzt er persönliche Würde, die im Vergleich zur echten Menschenwürde eine Scheinwürde ist. Sie kann der echten Menschenwürde dem Anschein nach ähneln, ist aber nicht authentisch.

Unterhalb seiner persönlichen Scheinwürde liegen die tierischen Instinkte und Triebe seines Körpers, die der Selbst- und Arterhaltung dienen. Hier besitzt der Mensch noch die Würde eines Tieres.

Sobald aber durch Degenerationsprozesse seines Gehirns,  wie wir es  beispielsweise bei  Demenzen beobachten können,  sowohl die Funktionen seiner Persönlichkeit als auch die Funktionen seiner tierischen Instinkte verloren gegangen sind, sodass er zum Beispiel seinen Kot nicht mehr von Nahrung unterscheiden kann oder gegen Wände läuft und sich selbst verletzt, usw. dann ist er unterhalb der Würde eines Tieres gefallen. Dann ist er würdelos geworden.

Letzteres soll aber nicht bedeuten, dass wir einem solchen Wesen gegenüber unmenschlich werden sollten. Denn damit würden wir von unserer eigenen Würde abfallen, auch wenn es sich dabei lediglich um unsere persönliche Scheinwürde handeln sollte.

Vielmehr sollten wir hier der Natur mitfühlend ihren Lauf lassen, anstatt einen solchen menschenunwürdigen Zustand mit allen zur Verfügung stehenden medizinischen und pflegerischen Mitteln solange wie möglich aufrechtzuerhalten, wie es in unserem vom Persönlichkeitskult geprägten Sozialgefüge enthusiastisch praktiziert wird.

Ein Mensch kann also sehr leicht unterhalb seiner Würde, fallen oder sie sogar auch verlieren:

  • Wenn er sich durch den Einfluss der Persönlichkeitskultur von seiner wahren Wesensnatur entfernt und diese vergisst.
  • Wenn er ein falsches Selbstbild erwirbt und er ganz den Neigungen seines tierischen Organismus und seiner Persönlichkeit verfällt.
  • Wenn sich im Laufe seines Lebens Persönlichkeitsstrukturen durch Identifikation mit diesen so stark kristallisiert und verselbstständigt haben, dass sie um jeden Preis überleben wollen.
  • Wenn er dement wird und seine innere Integrität verliert.
  • Wenn medizinisches Spezialistentum einzelne Teile seines Organismus und seiner Persönlichkeit am Leben erhält, während andere sterben oder schon gestorben sind.

Ein Mensch kann aber auch seine wahre Menschenwürde, wenn auch oft unter schwerem Leid, wieder gewinnen:

  • Wenn während seines Sterbeprozesses sein falsches Selbstbild zerbricht und er dabei einen Haltepunkt im formlosen Bewusstsein findet.
  • Wenn während seines Sterbeprozesses die kristallisierten Teile seiner Persönlichkeit dekristallisieren und die freiwerdenden Bewusstseinsteile einen Sammelpunkt im ungeformten Bewusstsein finden.
  • Wenn ihm medizinisch, pflegerisch und spirituell geholfen wird, als ganzer Mensch zu sterben.
  • Wenn er im Laufe seines Lebens lernt, seinen Schwerpunkt von der Persönlichkeit ins formlose Bewusstsein zu verlagern.

Manche Menschen können ihre Menschenwürde erst gegen Ende ihres Sterbeprozesses im Todeskampf wieder erlangen, wenn nach vollkommener Dekristallisation ihrer zuvor kristallisierten Persönlichkeitsstrukturen eine vollständige und bewusste Verklärung einsetzt.

Um dies zu verstehen, müssen wir wissen, dass der Todeskampf in der Endphase des Sterbeprozesses regelmäßig auftritt und wir ihn alle durchlaufen müssen. Er kommt im Wesentlichen durch die in unserem Organismus verankerten Mechanismen der Selbsterhaltung und durch die Auflösung der Identifikationen des Bewusstseins mit Teilen der Persönlichkeit und des Körpers zustande. Er stellt eine Art Übergangs- und Ablösungsphase dar, ähnlich wie wir sie bei unserer Geburt durchlebten, als wir mit ungeheurem Druck durch den Geburtskanal gepresst wurden und auf äußerste Anspannung, mit unserem ersten Atemzug und ersten Schrei, die Entspannung folgte. Und ebenso, wie sich der Geburtsprozess über kürzere oder längere Zeit mit mehr oder weniger Qualen erstrecken kann, kann sich auch der Todeskampf mit mehr oder weniger Qualen über einen kürzeren oder längeren Zeitraum erstrecken.

Wir können den Todeskampf als rückläufigen Prozess der Geburt betrachten:

Bei der Geburt tritt das Bewusstsein, das im Mutterleib Form angenommen hat, verkörpert in die Welt ein.

Im Todeskampf tritt es am anderen Ende seines Lebenskreislaufs, entkörpert wieder aus der Welt aus.

Beide Prozesse sind während ihrer Übergangsphasen mit Qualen verbunden.

Während des Todeskampfes lösen sich die noch am Körper und an der Persönlichkeit haftende Fragmente des Bewusstseins ab, um sich im Formlosen zu sammeln. Sobald dieser Prozess vollständig ist, tritt das ein, was wir Verklärung nennen. Das Bewusstsein ist still, inhaltlos und klar geworden. Es wird nicht mehr durch Inhalte oder Anhaftungen getrübt. Es folgt eine tiefe Entspannung und Gelöstheit, auch wenn Atmung und Herzschlag noch für einige Zeit weiter gehen. Wir können diesen Zustand an der gelösten Gesichtsmuskulatur und einer Ehrfurcht gebietenden, fast berührbaren Stille erkennen, die den Sterbenden umgibt.

Wird dieser Prozess der vollständigen Verklärung bewusst erlebt und haben sich alle Bewusstseinsfragmente komplett von Körper und Persönlichkeit gelöst, erlangt der Mensch auch seine echte Menschenwürde mit all den zugehörigen Tugenden, wieder:

Aufrichtigkeit, weil er mit seiner wahren Natur wieder authentisch geworden ist.

Wertschätzung, weil ihm das Wunder des Seins bewusst wird.

Gewissen und Mitgefühl, weil sie Attribute des geeinten Bewusstseins sind.

Selbstbestimmung, weil er mit seinem innersten Wesen stimmig geworden ist, weil seine Bestimmung erfüllt ist.

Integrität, weil er wieder zu einer Ganzheit geworden ist.

Erhabenheit, weil sich sein Bewusstsein über Körper und Persönlichkeit zu seiner wahren Natur erhoben hat.

Die Voraussetzung für solch einen wirklich menschenwürdigen Tod ist das Vorhandensein eines Gravitationsfeldes im leeren Bewusstsein während des Todeskampfes, damit die noch an Persönlichkeit und Körper haftenden Bewusstseinsfragmente einen Sammelpunkt finden und sich vollständig aus ihren Anhaftungen am Körper und an Formen lösen können. Ansonsten bleibt die Verklärung unvollständig, weil sie von ungelösten Anhaftungen getrübt wird.

Das Ausmaß der Qualen während des Todeskampfes ist von der Stärke der Anhaftungen des Bewusstseins am Körper, an Formen und Dingen abhängig. Dazu gehören zum Beispiel Dinge, die noch erledigt werden müssten, aber nicht mehr erledigt werden können, Gewissenskonflikte, zurückbleibende Personen, Strukturen der Persönlichkeit und Instinkte der Selbsterhaltung, usw. Die daraus entstehenden Qualen können so unerträglich werden, dass der Mensch im Todeskampf das Bewusstsein verliert und einen unbewussten Tod stirbt.

Der Todeskampf ist im Grunde ein Kampf zwischen Anhaftungen und  formlosem Bewusstsein.

Sind die Anhaftungen stärker als das Gravitationsfeld im formlosen Bewusstsein, bleiben Bewusstseinsteile ungelöst an ihren Anhaftungsobjekten hängen, während der Sterbeprozess unaufhaltsam fortschreitet, bis schließlich der Tod eintritt, ohne dass es zu einer vollständigen Loslösung des Bewusstseins kommt. Und damit bleibt auch die Verklärung unvollständig.

Der Mensch stirbt dann ungelöst in einem Zustand innerer Anspannung, und der Todeskampf setzt sich bis zum letzten Atemzug fort.

Bei manchen Menschen können wir dann auch nach Eintritt des Todes noch einen leidvollen Gesichtsausdruck erkennen, und den toten Körper umgibt eine spürbare Atmosphäre der Seelenqual und der Traurigkeit.

Einen solchen Tod als würdevoll zu bezeichnen, wäre eine Verkennung der Tatsachen.

An dieser Stelle stellt sich nun die Frage: Was geschieht denn mit den nicht abgelösten Bewusstseins- oder Seelenteilen, wenn der Körper und mit ihm auch die Persönlichkeit gestorben ist?

Wenn wir annehmen, dass das ursprüngliche Bewusstsein, so wie wir es in tiefer Meditation erfahren können, etwas Zeitloses oder außerhalb der Zeit liegendes ist, dann ist es durchaus vorstellbar, dass ungelöste Bewusstseinsteile, wenn ihnen ihre Form durch den Tod des Körpers und der Persönlichkeit weggenommen wird, zu einer Art Schemen werden, die danach trachten, sich wieder zu verkörpern und nach dem Prinzip „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ in einen neuen Mutterleib eingehen, um in einem Embryo eine neue Verkörperung anzunehmen. 

Wir können annehmen, dass die ungelösten Bewusstseinsteile eine Art Quantensprung vollziehen, indem sie beim Tod des Körpers und der Persönlichkeit von einem Ort und aus einer Zeit verschwinden, um an einer ande-en Stelle, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, in einem anderen Körper mit einer neuen (alten) Persönlichkeit wieder aufzutauchen.

So gesehen können wir davon ausgehen, dass die geklärten und gelösten Bewusstseinsteile wieder in ihren Einen, zeitlosen Urgrund eigehen, während die ungelösten, ungeklärten und haftenden Teile wieder in neue Lebenskreisläufe einfließen und den Prozess des Sterbens und Geborenwerdens so oft wiederholen müssen, bis auch sie geklärt sind und sich von jedweder Form lösen können, um ebenfalls in ihren Einen Urgrund einzugehen.

Die vollständig gelösten und verklärten Bewusstseinsteile sind dessen würdig geworden, sich über das Leben und den Tod zu erheben. Hat ein Mensch im Laufe seines Lebens wahre Menschenwürde erlangt und ist das Gravitationsfeld im ursprünglichen, formlosen Bewusstsein stark genug, um alle Bewusstseinsteile eines Menschen in sich zu vereinigen, dann erhebt er sich als Ganzes über Leben und Tod und muss nicht mehr in den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod eintauchen.

Es sind die Würdigen und Erhabenen, die als Unsterbliche in ihren Einen Urgrund eingehen können.

Würdig sind sie, weil ihr Bewusstsein von allen Formen, „Identitäten“ und Identifikationen gelöst ist.

Erhaben sind sie, weil sie sich über Körper und Persönlichkeit sowie über Leben und Tod erhoben haben.

Unsterblich sind sie, weil sie die Zeit verlassen haben und somit dem Wandel nicht mehr unterworfen sind.

Sie sind, bildlich gesprochen, zur Nabe des Lebensrades geworden, das sich unaufhörlich weiterdreht, während sie selbst stillstehen. Während sich der ewige Wandel zwischen den getrennten Gegensätzen, zwischen Leben und Tod an der Oberfläche ihres Seins vollzieht, sind Leben und Tod sowie alle Gegensatzpaare in ihnen zu einer einzigen Einheit geworden und zum Stillstand gekommen.

Vom spirituellen Standpunkt aus ist Leben an sich nicht etwas unbedingt Erstrebenswertes. Es ist ein ständiger Kampf der getrennten Gegensätze und daher immer mit Leiden verbunden. Für sich genommen ist Leben sinnlo-ses Leid.

Erst wenn das Leben zu einem Mittel und zu einem Zweck wird, wenn wir es nutzen, um unsere wahre Menschenwürde, unser wahres Menschsein zu erlangen, machen sowohl das Leben, der Tod als auch die damit verbundenen Leiden für uns Menschen einen Sinn. Dieser liegt dann in der Rückführung des in getrennten Gegensätzen verkörperten Bewusstseins zu seiner ursprünglichen Einheit. Dann werden die Leiden des Lebens zur treibenden Kraft, unsere ursprüngliche Einheit zu suchen und zu erlangen.

Auszug aus Veerendra H. Bühner: In Würde Wandeln und Sterben.